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Die Wahlniederlage der Partei Die Linke

Herman Michiel (*)

20. Oktober 2021

 

 

Bei den Bundestagswahlen am 26. September hat Die Linke ein katastrophales Ergebnis erzielt. Nur 2,3 Millionen Menschen stimmten für die Partei, 2 Millionen weniger als 2017. Analysten zufolge hätten von diesen 2 Millionen 820.000 für die SPD gestimmt, 610.000 für die Grünen und 520.000 hätten nicht gewählt.

 

ABB. 1: Anzahl der WählerInnen der Partei Die Linke bei den Bundestagswahlen seit 2009

Das Ergebnis von 4,9 % der abgegebenen Stimmen lag knapp unter der Wahlhürde von 5 %, aber da es immer noch drei direkt gewählte Mitglieder gab (über das deutsche System der getrennten Wahl eines Mandats pro Wahlkreis, die so genannte Erststimme), kam die Hürde nach dem Wahlrecht nicht zur Anwendung. Die Linkspartei wird dann noch mit 39 Abgeordneten im Bundestag vertreten sein, allerdings 30 weniger als bisher. Traditionell liegt der Wahlschwerpunkt der LINKEN zwar in den neuen Bundesländern, und in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern erreichte sie zwar noch über 11% (und 8,5% in Brandenburg), aber der Durchschnitt der fünf Ex-DDR-Länder ist mit 9,8% auch nur halb so hoch wie 2017. Die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) verliert zwar etwas, bleibt aber in Ostdeutschland sehr stark.

 

ABB. 2: Die Verluste der Partei Die Linke sind vor allem im Osten Deutschlands zu verzeichnen; je dunkler die Farbe, desto größer der Verlust (in Prozentpunkten).

Wahlergebnisse linker Parteien, egal wo in Europa oder darüber hinaus, lassen keine linke Seele unberührt. Wenn es um den wichtigsten Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) geht, können die dortigen Entwicklungen auch eine breitere Bedeutung haben. Das sollte man auch in der Phase des “Hinterfragens” sehen, in der sich so ziemlich jede linke Partei derzeit befindet. Welche Strategie ist in einem allgemein neoliberalen Kontext zu verfolgen, in dem die Rechte und zunehmend auch die extreme Rechte zu gedeihen scheinen? Es gibt Versuche in die links-populistische Richtung, wie Podemos in Spanien. In Frankreich versucht Mélenchon die Wähler mit einer staatlich-souveränistischen Erzählung zu begeistern. Die niederländische SP scheint den Wohlfahrtsstaat mit einer Art nationaler Igel-Haltung vor bösen Einflüssen schützen zu wollen. Was Die Linke betrifft, so gibt es verschiedene Strömungen mit unterschiedlichen Vorstellungen darüber, was die Partei tun sollte. Letztlich war es aber eine begrenzte Gruppe der Führung, die die Bereitschaft zur Regierungsbeteiligung zu ihrem wahltaktischen Aushängeschild machte.

Im Folgenden werden wir nacheinander die Meinung zum Wahlergebnis des Parteivorstandes, verschiedener Strömungen innerhalb der Partei und schließlich linker Kommentatoren und Organisationen außerhalb der Partei diskutieren.

 

Die Führung der Partei Die Linke

Auf ihrem Parteitag im Frühjahr wählte Die Linke mit Blick auf die Bundestagswahl einen neuen Parteivorstand (44 Mitglieder) und ein zweiköpfiges Präsidium, das Frauen-Duo Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow. Wissler galt als Vertreter des eher linken Flügels, während Hennig-Wellsow als “Realist” galt, der eine Regierungsbeteiligung in den Ländern und möglichst auch in der Bundesrepublik anstrebte. Der Wahlkampf wurde jedoch von einem kleinen Team geführt, und der Parteirat trat während der gesamten Zeit nicht zusammen.

Zwei Spitzenkandidaten standen im Rampenlicht: die Parteivorsitzende Janine Wissler und der Co-Vorsitzende des Bundestages, Dietmar Bartsch. Obwohl das Wahlprogramm ausdrücklich festhält, dass eine Regierungsbeteiligung bei Privatisierungen, Sozialabbau und öffentlichen Dienstleistungen nicht in Frage kommt, und man natürlich nicht im Voraus weiß, welche Koalition zustande kommt, war der Wahlkampf von der Regierungsbereitschaft der LINKEN geprägt. Die Beteiligung an der Regierung würde im Rahmen einer rot-rot-grünen Koalition (‘rrg’, SPD – Grüne – Die Linke) erfolgen. Die Befürworter der rrg-Koalition innerhalb der Partei Die Linke sahen sich durch die hohen Werte, die die Grünen in den Umfragen erhielten, eine Zeit lang gestärkt, auch später, als die SPD einen bemerkenswerten Aufstieg machte und die christdemokratische CDU/CSU überholte. Die “Regierungslinke” sah ihre Chance und brachte Anfang September, drei Wochen vor der Wahl, eine abgeschwächte Version des Wahlprogramms, das “Sofortprogramm“, auf den Weg. Die nach Ansicht der SPD und ihres Spitzenkandidaten Scholz “anstößigen” Punkte, die einer möglichen “rrg” im Wege standen, seien beseitigt worden. Dabei geht es vor allem um die Ablehnung der NATO durch die Linke und den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland. Bei der Vorstellung des Sofortprogramms sagte Bartsch, dass “das Beste für die Welt, Europa und Deutschland eine Mitte-Links-Koalition wäre”.

Sollte die Absicht einer rot-rot-grünen Koalition jemals außerhalb der Köpfe von Bartsch und anderen bestanden haben, so war sie nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses natürlich nicht mehr möglich. Auch rechnerisch erhält rrg keine Mehrheit. Die Protagonisten der Regierungsbeteiligung und des Sofortprogramms scheinen jedoch kein mea culpa zu machen. Hennig-Wellsow sieht “keinen Widerspruch zwischen Regierungsarbeit und Bewegungspolitik”, schließlich helfe es nicht, “sich an den Gartenzaun zu stellen” und ein paar Kommentare abzugeben. In Zukunft müsse Die Linke deutlich machen, “dass wir eine moderne linke Partei sind, die bereit ist, Verantwortung zu übernehmen”. Wissler, die andere Ko-Vorsitzende der Partei, war bekanntlich keine große Befürworterin von rrg, aber offenbar hielt sie es nicht für angebracht, sich zu diesem Thema zu äußern.

Gregor Gysi seinerseits (einer der drei direkt gewählten Abgeordneten und Aushängeschild der LINKEN in Ostdeutschland) bestreitet, dass das Debakel etwas mit den Regierungsambitionen der LINKEN zu tun hat (“das denken nur ihre Gegner”). Die ganze Diskussion um die NATO irritiert ihn, “die Auflösung der NATO steht nicht in unserem Wahlprogramm” (Seite 137 des Wahlprogramms: “Wir fordern die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter russischer Beteiligung, das die Abrüstung als zentrales Ziel hat.” Darüber hinaus heißt es im Wahlprogramm, dass Die Linke “in jeder politischen Konstellation” und unabhängig von einer Entscheidung über den Verbleib Deutschlands in der NATO, “aus den militärischen Strukturen des Militärbündnisses austritt und die Bundeswehr dem Oberkommando der NATO entzogen wird.”)

Für Dietmar Bartsch ist nicht der Wahlkampf an sich der Grund für das Debakel, sondern die Ursache liegt tiefer, unter anderem in den oft zutage getretenen Spaltungen in der Partei.  Auch der linke Europaabgeordnete Martin Schirdewan bedauert “dass es keine Mehrheit für eine progressive Alternative gegeben habe, in der die Linke das soziale Korrektiv hätte bilden können.“ Diese Aussage aus dem Mund des Ko-Vorsitzenden der Vereinigten Linken im Europäischen Parlament hat eine größere Tragweite als nur die deutsche…

Es gibt weitere Anzeichen dafür, dass die Befürworter der Regierungsbeteiligung keine Lehren aus ihren vorzeitigen Ambitionen ziehen. In einem Artikel in ‘Sozialismus.de’ vom 6. September, dem Tag, an dem das Sofortprogramm erschien, schreiben Joachim Bischoff und Gerd Siebecke enthusiastisch über die Wünschbarkeit einer “progressiven Koalition”. Drei Wochen später diskutierten sie in der gleichen Zeitschrift die Wahlergebnisse und wiesen auf mehrere reale Probleme in der Partei hin, ohne jedoch das eigenwillige Bestreben der Wahlkampfführung sich an der Regierung zu beteiligen zu erwähnen.

Im Parteirat, der am 2. und 3. Oktober zum ersten Mal seit seiner Wahl im Februar zusammenkam, fand eine erste Diskussion statt,. Natürlich gab es noch keine eingehende Analyse. Die Unzufriedenheit war groß, als Bartsch die Sitzung nach kurzer Zeit verließ und nach Ansicht einiger würde der Bericht über die Debatten nicht ausreichend auf die Diskussion über die Regierungsbeteiligung als Kernstück der Kampagne eingehen. Aber alle sind sich einig, dass die Partei einen schweren Schlag erlitten hat und dass es eine gründliche Debatte darüber geben muss, wie es mit Die Linke weitergehen soll. Die Verkleinerung des Parlaments hat auch finanzielle Auswirkungen; drei Millionen Euro müssen berücksichtigt werden.

Wir werden nun einige der Reaktionen der verschiedenen Strömungen innerhalb der Partei Die Linke durchgehen.

 

Sozialistische Linke (SL)

Die Sozialistische Linke (SL) ist eine Strömung innerhalb der Partei Die Linke, die sich auch als “gewerkschaftsnahe Strömung” und “linke Mitte der Partei” präsentiert. Sie richtet sich an “linkssozialistische, linkssozialdemokratische und reformkommunistische” Mitglieder und soll etwa 800 Mitglieder haben.

Bereits am 1. Oktober hatte die SL eine umfassende Stellungnahme zu dem “katastrophalen” Wahlergebnis abgegeben. Man könnte erwarten, dass aus gewerkschaftlicher Sicht die Verfolgung konkreter Ergebnisse im Bereich der Sozialpolitik dazu tendieren würde, dem staatlichen System so nahe wie möglich zu kommen. Dies ist jedoch nicht der Fall. SL sagt ganz klar: Links zu regieren ist nur möglich, wenn die Bedingungen stimmen. Es muss eine Dynamik in der Gesellschaft geben, die unsere Ansichten unterstützt, “auch in Abgrenzung zu möglichen Koalitionspartnern”. Die SL ist eindeutig der Meinung, dass diese Dynamik nicht vorhanden war, und bedauert, dass es keine offensivere Haltung gegenüber SPD und Grünen in allen möglichen Fragen (Steuern, Renten, Sparpolitik, Verteidigung, Außenpolitik, Afghanistan…) gab.

Die Sozialistische Linke ist auch der Meinung, dass die Partei sich nicht ausreichend an Arbeitnehmer, Arbeitslose, Rentner und Menschen mit niedrigem Bildungsniveau wendet (“Eine Partei nur für Akademiker?”).  Analysen zufolge gewannen SPD und Grüne Gewerkschaftsmitglieder hinzu, während Die Linke dort Wähler verlor.

Laut SL muss Die Linke eine “sozialistische Massenpartei” werden, verankert bei Jung und Alt, in Stadt und Land, bei Einheimischen und Migranten. Um dies zu erreichen, müssen die Interessen der Mehrheit in den Mittelpunkt gestellt werden. In der Partei muss es Platz für “normale Menschen” geben, nicht nur für radikale Aktivisten.

Die SL geht nicht näher auf die Rolle der umstrittenen Sahra Wagenknecht ein. Einerseits glaubt man, dass Persönlichkeiten für eine Partei wichtig sind, und Wagenknecht ist vielleicht das bekannteste Gesicht der Partei. Andererseits sorgte sie mit dem gescheiterten Versuch, eine Bewegung um oder außerhalb der Partei Die Linke zu gründen, mit der Veröffentlichung eines umstrittenen Buches während des Wahlkampfes und mit eigennützigen Äußerungen für Spaltung innerhalb der Partei und Verwirrung außerhalb. In einer buchhalterischen Betrachtung glaubt die SL, dass Wagenknecht netto mehr Menschen in die Partei geführt hat als aus ihr ausgetreten sind.

 

Marx21

Es handelt sich um einen marxistischen Kreis um die gleichnamige Zeitschrift, der im Gegensatz zur Sozialistischen Linken keine anerkannte Bewegung ist. Rund 300 Mitglieder sollen die Initiative unterstützen.

In sieben ‘Thesen’ weist Marx21 in erster Linie auf den Versuch hin, eine rot-rot-grüne Koalition zu bilden und das eigentliche Parteiprogramm dafür zu leugnen: “Der Partei wurde durch den Lagerwahlkampf für Rot-Rot-Grün die Luft genommen, SPD und Grüne offensiv anzugreifen.” Marx21 erkennt an, dass viele Menschen eine andere Art von Regierung wollen und dass die Partei darauf reagieren muss; die Möglichkeit, sich an einer linken Regierung zu beteiligen, sollte auch nicht ausgeschlossen werden, aber dies muss auf der Grundlage der Verteidigung eines linken Programms geschehen und nicht, indem man die Kritik bereits während des Wahlkampfs schluckt.

Marx21 weist auch den von Sahra Wagenknecht stark betonten Vorwurf zurück, die Partei habe sich zu weit von den einfachen Arbeitnehmern und Rentnern entfernt und konzentriere sich zu sehr auf Migration, Rassismus, Ökologie usw.

Die fünfte These wirft einen wichtigen, oft unterbelichteten Punkt auf. Wie Abb. 2 zeigt, ist das Wahldebakel hauptsächlich in den neuen Bundesländern zu finden. Eine weitere Statistik (Abb. 3) bestätigt dies: Im Osten geht die Mitgliederzahl der Partei systematisch zurück, während sie sich im Westen erholt hat und fast wieder das Niveau von 2007 erreicht hat.

 

ABB. 3 Mitgliedschaft der Partei Die Linke in Ost- und Westdeutschland

Marx21 stellt außerdem fest, dass die Beteiligung an der Regierung keine Garantie für die Sozialpolitik ist. Das Land Bremen wird von einer rrg-Koalition regiert, aber dort wurden während einer Pandemie mit Unterstützung der Partei Die Linke 440 Betten in staatlichen Krankenhäusern abgebaut. Und im Jahr 2002 wurde Berlin von einer SPD-Linke-Koalition regiert, die für die Privatisierung von 70.000 Wohnungen verantwortlich war.

Für Marx21 lautet die Schlussfolgerung, dass Die Linke einen Neuanfang (“Reboot”) machen und Opposition nicht als etwas Nutzloses betrachten sollte. Die Partei muss zum Motor des Widerstands und der Gegenmacht werden.

 

Antikapitalistische Linke (akl)

Die akl, die etwa tausend Mitglieder haben soll, ist innerhalb der Partei offiziell anerkannt und offen für eine Vielzahl linker Ansichten; si ist auch offen für Nicht-Parteimitglieder. Sie steht dem Parlamentarismus kritisch gegenüber und ist ausgeprägt antimilitaristisch (der bekannte Antimilitarist Tobias Pflüger gehört der akl zu, wurde aber nicht wiedergewählt).

Auf dem Parteirat am 3. Oktober vertrat Thies Gleiss die Auffassung von akl. Der Wahlkampf, der auf die Bildung einer “Linksregierung” um jeden Preis abzielte, sei ein Bruch mit dem Parteiprogramm. Bartschs Motto “Wir müssen die SPD aus der Gefangenschaft der CDU befreien” lief auf einen Wahlkampf für die SPD hinaus. Das verwirrte viele Wähler, von denen viele dann SPD oder Grüne wählten. In der Analyse von akl-Nordrhein-Westfalen (dem bevölkerungsreichsten Bundesland) heißt es, dass die soziale Seite der Klimapolitik nicht ausreichend beleuchtet wurde, dass es keine Kampagne gegen Hartz4 gab und dass die Kampagne einseitig auf die Figur von Sahra Wagenknecht ausgerichtet war; sie und fünf andere wurden in NRW gewählt, aber das ist nur die Hälfte von dem, was es im Jahr 2017 war.

Mit akl verwandt ist die Kommunistische Plattform (KPF), ebenfalls antikapitalistisch und antimilitaristisch, aber weniger kritisch gegenüber der stalinistischen Vergangenheit der DDR. In einer kurzen Reaktion auf die Wahlen weist die KPF auf die Zurückhaltung hin, mit der SPD und Grüne von den Wahlkampfleitern behandelt wurden, die die Regierungsbeteiligung zum Hauptziel machten. Dass dabei Parteipositionen zur NATO und zum Einsatz der Bundeswehr vergessen wurden, ging der KPF natürlich auch zu weit. Es stellt sich auch die Frage, ob eine solche Kompromissbereitschaft in militärischen Fragen von den Wählern nicht auch auf die (Un-)Entschlossenheit in sozialen Fragen übertragen würde.

 

Bewegungslinke

Die Bewegungslinke wurde erst 2018 gegründet, aber die Bewegung ist im aktuellen Parteirat stark vertreten. Sie wollen eine Brücke zwischen der Partei und den außerparlamentarischen Bewegungen schlagen (haben aber Sahra Wagenknechts Aufsteh-Bewegung nicht unterstützt).

In der Analyse des Wahlergebnisses wird das Debakel vor allem als Ausdruck der Krise gesehen, in der sich die Partei befindet. “Wir müssen uns grundsätzliche Fragen stellen: was war in der Partei der Vergangenheit falsch, wie soll die Partei der Zukunft aussehen?” Es gibt keine Diskussion über die regierungsorientierte Kampagne, sondern eine ausführliche Diskussion über die Vorgeschichte der Partei Die Linke. Sie entstand aus dem Zusammenschluss eines starken Ostpols, der PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus), mit “desillusionierten SPDlern” im Westen. Ihr anfänglicher Erfolg beruhte vor allem auf dem östlichen Pol, aber inzwischen ist sie geschwächt, unter anderem durch eine alternde Wählerschaft. Andererseits sind in den letzten Jahren neue Mitglieder hinzugekommen, oft junge Menschen aus antirassistischen und anderen Bewegungen, Klimaaktivisten, Beschäftigte in der Pflege. Die Partei hat sich nicht ausreichend darauf eingestellt; die Herausforderung besteht nun darin, eine “neue Partei” ins Leben zu rufen.

 

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Betrachtet man die Reaktionen der unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Partei zusammen, so widersprechen alle (mit der möglichen Ausnahme der Bewegungslinke) dem Tenor der Kampagne, indem sie fast bedingungslos auf eine Koalition mit SPD und Grünen drängen. Das ist eine ziemlich krasse Beobachtung! In dem Moment, in dem eine Partei am auffälligsten in der Öffentlichkeit auftritt, wird sie am wenigsten von ihren Vertretungsorganen geführt. Wie bereits erwähnt, hat der Parteirat während des Wahlkampfes kein einziges Mal getagt; das verabschiedete Parteiprogramm wurde von der Wahlkampfleitung einfach durch das Sofortprogramm ersetzt… Aber das ist ein Manko, das nicht nur bei Die Linke zu finden ist. In der britischen Labour-Partei ist es üblich, und eigentlich in allen bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien haben die Mitglieder wenig oder gar kein Mitspracherecht bei Wahlkämpfen und der Parteilinie im Allgemeinen.

In dieser Hinsicht ist Die Linke sicher nicht die schlechteste. Die Tatsache, dass organisierte Bewegungen zugelassen sind, ermöglicht es, verschiedene Standpunkte zu vertreten. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass – obwohl parteiinterne Meinungsverschiedenheiten von verschiedenen Seiten als negativ hervorgehoben werden – dies nicht zu Plädoyers für die Abschaffung der Vielfalt führt. Davon können die aus der niederländischen SP ausgeschlossenen Linksjugendlichen nur träumen! Vielleicht hätten die Aktivisten der Partei nicht bis nach den Wahlen warten sollen, um zu intervenieren. Hätte der Parteirat nicht eingreifen können, als die Kampagne die uns bekannte Wendung genommen hätte?

Die raschen und engagierten Reaktionen auf das Wahldebakel lassen jedenfalls auf ein stärkeres Engagement für die Partei schließen, als dies andernorts oft der Fall ist. So weist die Antikapitalistische Linke darauf hin, dass das Gesamtwahlergebnis nicht als Niedergang der Linken in der deutschen Gesellschaft interpretiert werden kann; SPD und Grüne gewinnen zusammen mehr Stimmen als Die Linke verliert. Wenn die Erwartungen der Wähler an eine andere Politik unerfüllt bleiben, wird die Notwendigkeit einer echten linken Alternative noch deutlicher, so akl. Auch der durchschlagende Erfolg des Berliner Volksentscheids zur Enteignung von Immobilienspekulanten zeigt, dass breite Teile der Bevölkerung für radikale Maßnahmen empfänglich sind.

 

Reaktionen außerhalb der Partei

Man muss kein (aktives) Mitglied einer Partei sein, um auf ihr Fortschrit zu hoffen und sich im anderen Fall Sorgen zu machen. Die Reaktionen auf die Wahlniederlage der Linken von Bewegungen, engagierten Akademikern und einzelnen Wählern zeigen, dass viele Menschen ihre Hoffnung in die Linke gesetzt haben.

Einige Tage nach dem 26. September gaben eine Reihe führender Friedensaktivisten eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie ihre Enttäuschung über den Kurs der antimilitaristischen Positionen der Partei zum Ausdruck brachten. Ihr Fazit: Es gibt nur eine Alternative: harte, konsequente und programmatische Oppositionsarbeit als einziger Weg zurück zu politischer Identität und Glaubwürdigkeit bei den Wählern.

In der deutschen Ausgabe der Zeitschrift Jacobin äußert sich Klaus Dörre, Professor für Soziologie in Jena, zum Niedergang der Partei Die Linke. Die Partei hätte bei der Hauptaufgabe unserer Zeit, dem radikalen Wandel zur Nachhaltigkeit, eine führende Rolle spielen sollen, sie hatte ein gutes Programm zum Thema, aber bei den öffentlichen Auftritten war nichts zu hören und zu sehen. Dies war auch in Bezug auf die NATO und ausländische Maßnahmen der Fall; die Partei war damals die einzige, die sich gegen eine Beteiligung an der militärischen Intervention in Afghanistan aussprach, ein Thema, das während des Wahlkampfes breit diskutiert wurde. Aber wegen der rot-rot-grünen Obsession hat man auch davon nichts gehört.

Die Glaubwürdigkeit der Partei litt auch unter den Konflikten in der Partei, die in großer Zahl zutage traten. Wagenknecht warf der Partei vor, sich von den einfachen Menschen abzuwenden [und veröffentlichte im April 2021 ein Buch mit dem Untertitel “Mein Gegenprogramm”], führte aber die Liste in Nordrhein-Westfalen an… Und wenn sie wie die dänischen Sozialdemokraten die Verteidigung des Sozialstaats mit der Kritik an der Migration verbindet, erweist sie einer Partei, die für Antirassismus und Solidarität steht, einen Bärendienst. Oskar Lafontaine hatte seinerseits offen dazu aufgerufen, wegen seines Konflikts mit dem saarländischen Listenführer nicht für die Linke zu stimmen. Für Dörre ist klar:  “Statt als Mosaiklinke zusammenzuwirken, in der viele kooperierende Strömungen ihren Platz haben, wirkt die Partei nach außen wie eine Ansammlung zerstrittener Sekten, die sich im Alleinbesitz ewiger Wahrheiten wähnen. ”

Ein anderer Soziologieprofessor, der bekannte Wolfgang Streeck, äußert sich ebenfalls ausführlich zur Bundestagswahl, aber über Die Linke sagt er nur, dass die Partei “beinahe tot” sei. Das ist sehr wenig für einen Autor, der sonst nie um einen scharfen Kommentar verlegen ist. Als einer der bekanntesten Unterstützer der Aufsteh-Bewegung von Sahra Wagenknecht wäre ein wenig Nachdenken darüber nicht unangebracht gewesen.

Der Wirtschaftsgeograph Christian Zeller (Univ. Salzburg) besprach das Sofortprogramm gleich nach seinem Erscheinen Anfang September ausführlich in der Sozialistischen Zeitung. “Mit SPD und Grünen für einen sozial-ökologischen Politikwechsel, wirklich?”, betitelte er einen Beitrag, der das idyllische Bild von der linken Koalition, die unter der Obhut von Die Linke einen neuen Weg in Sachen Klima, Korona-Bekämpfung und Abrüstung einschlagen würde, zu Brennholz verarbeitete.

Dies sind nur einige Reaktionen von außerhalb der Partei selbst, und es gibt sicherlich auch Ansichten, die den “realistischen” Kurs der Wahlkampfleitung verteidigen. Dennoch habe ich den Eindruck, dass es in Deutschland noch ein erhebliches linkes kritisches Potenzial gibt, das die nun eröffnete Denkpause innerhalb der LINKEN belasten wird. Man kann nur hoffen, dass die bittere Erfahrung des 26. Septembers zu einer grundsätzlicheren Einsicht darüber führt, was eine linke Partei sein und tun sollte.

 

Und was sollte eine linke Partei tun?

Eine grundlegende Frage, auf die es keine “richtige” Antwort gibt. Aber doch dies. Zunächst einmal sind Erfolge oder Misserfolge in Wahlkämpfen kein absolutes Kriterium für die Richtigkeit der Strategie einer linksradikalen Partei. Sofern die Partei ihre Daseinsberechtigung im Streben nach einer anderen, sozialistischen Gesellschaft sieht, sind die Bürgerschaftswahlen nur einer der Versuche, die Menschen für das alternative Projekt zu gewinnen. Wer sich für dieses Projekt einsetzt, muss die besten Voraussetzungen mitbringen. Sie sind da, und das wurde auch im deutschen Kontext deutlich. Nur Die Linke war von Anfang an gegen die Politik der NATO. Nur Die Linke stellt den Zusammenhang zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und der sich abzeichnenden Klimakatastrophe her. Und nur Die Linke hat sich konsequent gegen den humanitären und politischen Skandal der Festung Europa gestellt. Das sind die Trümpfe einer antikapitalistischen Partei, aber sie nützen nichts, wenn sie nicht ausgespielt werden, einer imaginären “linken Front” halber in der man nur der Prügelknabe sein wird.

 

(*) Herman Michiel ist Redakteur der niederländisch-flämischen Webseite Ander Europa.

 


 

 

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